In Deutschland gibt es im Alltag wenig Kontakt zu Juden oder Judentum. Dafür sind jedoch die Bilder von Juden – von Holocaust-Opfern, jüdischen Kommunisten oder israelischen Soldaten – im Übermaß präsent. Juden werden zum Teil immer noch als ein in sich homogenes, monolithisches Kollektiv wahrgenommen und mit stereotypen Merkmalen – Eigenschaften, Verhaltensweisen, gar Absichten – belegt. Dieser Form der Wahrnehmung liegt zumeist eine affektbezogene und durch Stereotype begründete Abneigung gegen alles »Jüdische« zugrunde, welche als eine Art Idiosynkrasie im kollektiven Bewusstsein der nicht jüdischen Mehrheit fest verankert ist und auch ohne die »jüdische« Präsenz oder das »jüdische« Verhalten auskommt
(Bundschuh 2007). Antisemitisch konnotierte Haltungen und Denkmuster sind zudem so normalisiert, dass sie nicht weiter auffallen und für ihre Träger*innen so »normal« sind, dass der Handlungsbedarf nicht gesehen wird und die Grenzen zwischen dem »Eigenen« und »Jüdischem« als naturgegeben und gleichzeitig als unveränderbar betrachtet werden (Schneider 2001).
»Vor dem Hintergrund der NS-Geschichte wirft die Konfrontation mit jüdischen Themen Fragen nach Schuld und Scham auf und berührt zentrale Aspekte der kollektiven deutschen Identität. Die Vorstellungen von Juden erinnern an die Last der Vergangenheit und gehen mit starken Emotionen einher. Auch der aktuelle Antisemitismus bleibt für viele Beteiligte nach wie vor ein unbequemes Thema und scheint nicht selten Widerstände und Abwehrreaktionen hervorzurufen. Im Privaten wird dieses diffuse Thema selten reflektiert, in den öffentlichen Diskursen wird es aber durch Skandalisierung und Polemisierung immer häufiger zum Tragen gebracht. « ( Chernivsky 2013, 34 ) Das zentrale Anliegen dieser Übung ist die Sensibilisierung der Beteiligten sowohl für ihre eigenen Bilder von Juden und jüdischen Lebenswelten als auch für die Funktion und Wirkung von Stereotypen und Zuschreibungen. Die eigenbiographische und selbstreflexive Beschäftigung mit schwelenden Phantasien oder Vorstellungen vom Jüdischen gilt hier als ein Element pädagogischer Professionalität im Umgang mit aktuellem Antisemitismus. In der Bildungsarbeit zu oder gegen Antisemitismus ist es wichtig, die unterschiedlichen generationsspezifischen Referenzrahmen und Bezugssetzungen zu reflektieren und stets im Blick zu behalten. » Dies umfasst Dimensionen, bei denen die subjektive emotionale und moralische Betroffenheit nicht ausgeblendet sowie problemlos eine professionell distanzierte und gelassene Haltung gegenüber einem objektivierbaren Lerngegenstand eingenommen werden kann. « ( Schäuble / Scherr 2007, 9 ). Insofern sind die Reflexion über familiale Verstrickungen, Einordnung von Konflikten und Analyse von Projektionen bedeutende Voraussetzungen für gelungene Lernprozesse, die nicht nur Wissen über Antisemitismus vermitteln, sondern in erster Linie die eigene Verstrickung in den Antisemitismus thematisieren und die damit einhergehenden Emotionen sowie Reaktionen enttabuisieren und besprechbar machen.
Die Methode wurde von Marina Chernivsky und erschien 2014 in “Praxis Welten. Zwischenräume der Veränderung. Neue Wege zur Kompetenzerweiterung.”. Die Methode findet ihr im PDF Format hier, inklusive Vertiefungsangebot: Perspektivwechsel, oder der andere Blick
Die Übung richtet sich an alle Interessierten, die sich mit ihrer Beziehung zum Antisemitismus auseinandersetzen möchten. Die Übung ist ein Rollenspiel und basiert auf der Bereitschaft der Beteiligten, die hier verhandelten Rollen anzunehmen und sich auf aktive Reflexionsprozesse einzulassen.
Arbeitsform: Stuhlkreis und ausreichend Raum für die Arbeit in Kleingruppen
Gruppengröße: 10–15 Personen
Zeitumfang: 90–120 Minuten, je nach Gruppengröße und Zeitkapazitäten
Materialien: je ein Merkmal pro Person, Visualisierung der Leitfragen am Flipchart oder Arbeitsblätter mit den Fragen für Einzelarbeit und Gruppenarbeit
Das Seminarteam verteilt die Rollen und bittet die Teilnehmenden, die neue Identität für einen definierten Zeitraum anzunehmen. Die Rollenübernahme und Reflexion über die damit einhergehenden Emotionen, Erfahrungen und Perspektiven vollzieht sich in der stillen Reflexion der Einzelarbeit, in der Phase der Kleingruppenarbeit und anschließend im gemeinsamen Plenum. Sowohl die Rollen als auch die gesamte Übung können jederzeit verlassen werden. Am Ende der Rolleneinheit ist es wichtig, aus der Rolle symbolisch auszutreten. Dafür reicht eine symbolische Bewegung oder ein anders Ritual je nach Wunsch und Bedarf der Einzelnen. Die unten aufgeführten Rollenkarten können per Zufall gezogen werden.
Liste der Rollen (Beispiele, ergänz- und austauschbar):
• Ich bin Jüdin*Jude.
• Mein*e Partner*in kommt aus Israel.
• Meine Tochter will einen jüdischen Mann heiraten.
• Meine Beziehungsperson ist zum Judentum übergetreten.
• Mein*e Partner*in ist jüdisch.
• Mein Chef ist ein orthodoxer Jude.
• Ich bin ein*e jüdische*r Zuwanderer*in aus Russland.
• Ich bin zum Judentum übergetreten.
In dieser Phase geht es vorerst um eigene Einstimmung und stille Reflexion über die Wirklichkeit der übernommenen Identität. Wie in jedem Rollenspiel geht es dabei um subjektive Deutungen der neuen Realität und keineswegs um tiefgreifende Kenntnisse, welche die Rolle füllen müssen. Es bedeutet, dass die Rollen frei und phantasievoll ausgestaltet werden dürfen, ohne dass das Normverständnis überwiegt. Folgende Fragen sind Wegweiser zur Reflexion über die mit der Rolle einhergehenden Perspektiven und Erfahrungen. Die Analyse findet nun aus der Rollenperspektive statt.
Einfühlungsfragen:
• Wie geht es mir mit dieser neuen Identität?
• Welche Erfahrungen kommen neu dazu?
• Wie reagiert mein » altes « Umfeld auf meine neue Identität?
• Wie würde meine Familie darauf reagieren?
• Welche Veränderungen im Alltag oder Beruf kommen auf mich zu?
Nach der Phase der stillen Reflexion in der Einzelarbeit werden nun Kleingruppen gebildet. Die Teilnehmenden verbleiben noch in ihren Rollen und ihr Auftrag besteht darin, sich über die ausgeteilten Rollenkarten sowie über die damit einhergehenden Gedanken, Gefühle und Veränderungen auszutauschen. Wichtig ist es, hier ein gemeinsames Ergebnis auszuhandeln, das alle drei Dimensionen zur Sprache bringt:
1 ) Wie geht es mir in dieser neuen Rolle?
2 ) Welche Fremdbilder und Erfahrungen kommen nun neu dazu?
3 ) Welche Veränderungen im Alltag und in anderen Lebensbereichen gehen damit einher?
Die Gruppen lösen sich auf, die jeweiligen Rollen werden mittels einer körperlichen Bewegung oder eines anderen Rituals verabschiedet. Anschließend findet eine Plenumsdiskussion statt.
Reflexions- und Auswertungsfragen:
• Wie verlief der Austausch in den Arbeitsgruppen?
• Konnten Sie einen Zugang zu der Übung finden?
• Von welchen Gefühlen war die Arbeit an der Übung begleitet?
• Welche Aspekte konnten in den Arbeitsgruppen reflektiert werden?
• Welche Stereotype und Ressentiments gehen mit diesen Merkmalen einher?
• Aus welchen Quellen haben Sie das » Wissen « über die Rollen bezogen?
• Was waren die häufigsten Assoziationen zu den Rollen?
• Welche Fragen zu den Rollen sind offen geblieben?
Winfried Kretschmann
Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Bündnis 90/Die Grünen
Dr. Klaus Lederer
Bürgermeister und Kultur- und Europasenator von Berlin, DIE LINKE
Dr. Anja Siegemund
Direktorin des Centrum Judaicum, ELES-Beirat
Pfarrerin Ilona Klemens
Generalsekretärin der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
Dr. Wiebke Esdar
MdB, SPD
Prof. Dr. Natan Sznaider
ELES-Beiratsmitglied
Manuela Schwesig
Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, SPD
Dr. Dietmar Woidke
Ministerpräsident des Landes Brandenburg, SPD
Anja Karliczek
MdB, Bundesministerin für Bildung und Forschung a.D., CDU
Dr. Annette Julius
Generalsekretärin der Studienstiftung des deutschen Volkes
Michael Kretschmer
Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, CDU
Hakan Tosuner
Geschäftsführer des Avicenna Studienwerks
Dr. Gesine Lötzsch
MdB, DIE LINKE
Michael Roth
MdB, SPD
Düzen Tekkal
Journalistin, Filmproduzentin, Menschenrechtsaktivistin
Malu Dreyer
Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz, SPD
Janika Gelinek und Dr. Sonja Longolius
Leitung Literaturhaus Berlin
Michael Müller
MdB, Regierender Bürgermeister von Berlin a.D., SPD
Dr. Michael Blume
Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus
Daniel Günther
Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, CDU
Hermann Gröhe
MdB, CDU
Dr. Peter Tschentscher
Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, SPD
Dietmar Nietan
MdB, SPD
Dr. Christian Staffa
Beauftragter der Ev. Kirche in Deutschland für den Kampf gegen Antisemitismus & Studienleiter an der Evangelischen Akademie zu Berlin
Prof. Dr. Georg Braungart
Leiter des Cusanuswerks
Annalena Baerbock
Bundesministerin des Auswärtigen, MdB, Bündnis90/Die Grünen
Marina Chernivsky
Leitung Kompetenzzentrum (ZWST) und Geschäftsführung Ofek e.V.
Friederike Faß
Leiterin und Vorstand des Evangelischen Studienwerks
Prof. Dr. Micha Brumlik
ELES-Vereinsmitglied
Bodo Ramelow
Ministerpräsident des Freistaats Thüringen und Mitglied im Stiftungsrat der Leo Baeck Foundation
Dr. Michal Or-Guil
ELES-Geschäftsführerin
Stephan Weil
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, SPD
Ekin Deligöz
MdB & Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bündnis 90/Die Grünen
Dr. jur. Andreas Bovenschulte
Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen, SPD
Kai Gehring
MdB,
Saba-Nur Cheema
Politologin & Publizistin
Petra Pau
Vizepräsidentin des deutschen Bundestages,
Prof. Dr. Samuel Salzborn
Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus
Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Ehem. Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern & ehem. Ratsvorsitzender der EKD (2014-2021)
Armin Laschet
MdB, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, CDU
Dr. Felix Klein
Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus
Christian Schmidt
Bundesminister a.D., CSU
Belit Onay
Oberbürgermeister von Hannover, Bündnis 90/Die Grünen
Kerstin Griese
MdB, Parlamentarische Staatssekretärin für Arbeit und Soziales, SPD
Karin Prien
Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, CDU
Dr. jur. Markus Söder
Ministerpräsident des Freistaates Bayern, CSU
Dr. Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Schirmherr von
Prof. Jeanine Meerapfel
Filmregisseurin und ehem. Präsidentin der Akademie der Künste (2015-2024)
Dr. Reiner Haseloff
Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, CDU
Prof. Dr. Frederek Musall
Stellv. Rektor der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg & ELES-Beiratsvorsitzender
André Kuper
Landtagspräsident von Nordrhein-Westfalen, CDU
Jan Korte
MdB, DIE LINKE
Frank Müller-Rosentritt
MdB, FDP
Volker Bouffier
Ministerpräsident des Landes Hessen a.D., CDU
Thomas Rachel
MdB, CDU
Anetta Kahane
Gründerin & ehem. Vorstandsvorsitzende (1998-2022) der Amadeu Antonio Stiftung
Volker Beck
Geschäftsführer und Gesellschafter des Tikvah Instituts & seit 2022 Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) e.V.
Manuel Herder
Verleger des Herder Verlags und Mehrheitsgesellschafter von Thalia
Dr. h. c.
Schirmherrin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks
Aydan Özoğuz
MdB, Staatsministerin a.D., SPD
Benjamin Strasser
Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, FDP
Tobias Hans
Ministerpräsident des Saarlandes a.D., CDU
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, FDP