Reichsfahnen, Antisemitismus und Umsturzfantasien – das letzte Augustwochenende 2020 in Berlin
Am Wochenende vom 28. bis 30. August 2020 fanden in Berlin eine Reihe von rechtsoffenen Versammlungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie statt. Auf sieben Versammlungen dokumentierte RIAS Berlin insgesamt 31 antisemitische Vorkommnisse. Zudem wurden RIAS Berlin eine Bedrohung und ein weiterer Fall verletzenden Verhaltens bekannt.
Im Vergleich zu den Versammlungen zum gleichen Thema, die am ersten Augustwochenende stattfanden, erfolgte die Mobilisierung diesmal verstärkt im rechten bis rechtsextremen Spektrum. Als zentraler Akteur trat im Vorfeld wie schon vier Wochen zuvor die Stuttgarter Gruppierung „Querdenken 711“ auf. Für die Versammlungen hatte die Berliner Versammlungsbehörde aufgrund der Annahme, dass Hygiene-Maßnahmen nicht ausreichend beachtet würden, am Mittwoch, 26. August, einen vorläufigen Verbotsbescheid erlassen, der am Freitag durch das Verwaltungsgericht Berlin zurückgewiesen wurde. Viele Akteur_innen und Teilnehmende der Versammlungen stellten das vorläufige Verbot als vermeintlichen Beweis einer unmittelbar bevorstehenden „Corona-Diktatur“ dar. Um so vehementer und martialischer fiel die Wortwahl aus – insbesondere in den einschlägigen Kanälen auf dem Messenger-Dienst „Telegram“, der von vielen Akteur_innen und Anhänger_innen genutzt wird: Aufrufe zum Widerstand gingen einher mit Gewaltdrohungen und zum Teil gewaltvollen Umsturzfantasien. RIAS Berlin wie andere zivilgesellschaftliche Akteur_innen verwiesen im Vorfeld des Wochenendes auf das erhöhte Gewaltpotenzial, um ausdrücklich davor zu warnen.
Hohe Sichtbarkeit sogenannter Reichsbürger_innen
Neben Verschwörungsmythen waren an dem Wochenende Chiffren und Symbole, die auf ideologische Versatzstücke von sogenannten Reichsbürger_innen rekurrieren, umfassend präsent. Auf den Demonstrationen wurde in Reden und auf Schildern die Souveränität der Bundesrepublik angezweifelt, das Grundgesetz als „Besatzungsrecht“ bezeichnet und ein „Friedensvertrag“ zwischen Trump und Putin gefordert. Auch war ein Vielzahl schwarz-weiß-roter Symboliken sichtbar – nicht nur in Form von Fahnen, sondern auch als Banner, Kleidungsstücke oder Accessoires. Hinter der Ideologie sogenannter Reichsbürger_innen steht die Vorstellung, dass Deutschland seit 1945 noch immer unter alliierter Besatzung stehe. Das umfasst meist nicht nur eine Ablehnung des bestehenden Staates, sondern häufig der gesamten modernen und liberalen Gesellschaft. Demgegenüber findet oftmals eine Idealisierung des „Deutschen Reichs“ statt. Feindbildkonstruktionen sogenannter Reichsbürger_innen umfassen auch antisemitische Stereotype. Bis auf wenige Ausnahmen fand seitens der Veranstalter_innen oder Redner_innen keine Distanzierung von entsprechenden Ideologien statt, vielmehr gaben sie diesen Positionen einen Raum. Michael Ballweg, zentraler Akteur der sogenannten Querdenker, sprach bereits im Vorfeld am 1. August in Berlin und am 8. August in Stuttgart gezielt das Spektrum der sogenannten Reichsbürger_innen und Anhänger_innen des QAnon-Verschwörungsmythos an. In diesem Umfeld bewegte sich an dem Wochenende auch ein Polizist aus Niedersachsen, der für die Sicherheitsbewertung einer jüdischen Einrichtung zuständig war und nach einer Rede auf der „Querdenken231“-Versammlung am 9. August in Dortmund vorerst vom Dienst entbunden wurde. Auch an diesem Wochenende hielt er eine Rede.
Freitag
Am Freitagnachmittag, den 28. August, fand Unter den Linden vor der Botschaft der Russischen Föderation eine Versammlung statt, auf der Teilnehmer_innen einen Friedensvertrag für Deutschland forderten. Ein solcher Vertrag könne in ihrer Vorstellung nur durch einen Zusammenschluss zwischen Trump und Putin hervorgebracht werden. In einer Rede verkehrte eine Person auf antisemitische Weise die Rolle von Täter_innen und Opfern im Hinblick auf die Verantwortung für den 2. Weltkrieg und sagte, dass diesen „nicht wir [Deutsche] wollten, dass das ein Werk der Zionisten war“. Weiter imaginierte die Person, „diesen [Zionisten] wird nun das Handwerk gelegt“.
Vor dem Brandenburger Tor fand am selben Tag die erste „Querdenken“-Versammlung des Wochenendes statt. Dort waren unmittelbar vor der Bühne schwarz-weiß-rote Symboliken sichtbar. Unter den Teilnehmer_innen befanden sich zwei Personen mit Kleidungsstücken mit antisemitischen Äußerungen:
Samstag
Am Samstag, den 29. August, fand das Versammlungsgeschehen an drei zentralen Orten statt: zwischen Friedrichstraße und dem Brandenburger Tor, auf der Straße des 17. Juni bis zur Siegessäule und vor dem Bundestag. An jedem dieser Orte und Versammlungen wurden RIAS Berlin antisemitische Ausdrucksformen bekannt.
Am Morgen versammelten sich Unterstützer_innen eines rechtsextremen Rappers an einem Vorabtreffpunkt am Reiterstandbild Friedrichs des Großen vor der Humboldt Universität. Dort trug eine Person einen Pullover mit dem Aufdruck „Amalek“. Der Begriff ist eine alttestamentarische Bezeichnung für die Erzfeinde der Israelit_innen.
Auf der Strecke Unter den Linden und auf der Friedrichstraße, vom Brandenburger Tor bis zur Torstraße, hatten sich Versammlungsteilnehmer_innen von „Querdenken Leipzig“ gesammelt. RIAS Berlin wurden dabei fünf Vorkommnisse bekannt, in denen Teilnehmende den sogenannten „Judenstern“ zeigten:
Daneben wurden durch RIAS Berlin weitere antisemitische Vorkommnisse im Kontext dieses Versammlungsgeschehens dokumentiert:
Teilnehmer_innen demonstrierten aus dieser Versammlung heraus vor der US-Botschaft am Pariser Platz und später vor der Botschaft der Russischen Föderation Unter den Linden und forderten wie am Vortag einen „Friedensvertrag“ ein – darunter ebenfalls insbesondere sogenannte Reichsbürger_innen, aber auch Anhänger_innen des QAnon-Verschwörungsmythos. Zudem war eine Vielzahl von schwarz-weiß-roten Symboliken und QAnon-Chiffren sichtbar. Später hielt dort ein bekannter Vegankoch eine Rede, in der er von einer „Neuen Weltordnung“ sprach, für die er „Rothschild und Rockefeller“ verantwortlich machte.
RIAS Berlin wurde gemeldet, dass eine Person, die vorher auf der Versammlung zu sehen war ein T-Shirt mit einem sogenannten „Judenstern“ trug, durch das Denkmal für die ermordeten Juden und Jüdinnen Europas lief. Auf den Stelen des Mahnmals ließ sich zudem eine Gruppe von Versammlungsteilnehmer_innen mit Deutschlandflaggen für ein Picknick nieder.
Die „Querdenken711“-Kundgebung auf der Straße des 17. Juni
Die zentrale Kundgebung von „Querdenken 711“ fand auf der Straße des 17. Juni bis zur Siegessäule statt, wo am Nachmittag des 29. August eine diffuse und unübersichtliche Mischung von politischen Spektren zusammenfand. Regenbogenfahnen, „Querdenken“-T-Shirts und vereinzelt auch Reichsfahnen waren zu sehen. Einer der Redner, Heiko Schrang, proklamierte wie viele andere an diesem Wochenende: „Die Zeit ist reif für ein neues System“, und bezeichnete die Politik als „Unterhaltungsabteilung der Hochfinanz“. Im Kontext dieser Versammlung wurden RIAS Berlin weitere antisemitische Äußerungen bekannt:
Am Rande der Straße des 17. Juni im Tiergarten wurde eine Person, die eine Kippa trug, bedrängt und bedroht. Die Teilnehmer_innen der Versammlung riefen dabei u.a.:„Ihr denkt, ihr seid die Herrenrasse“, „Ihr macht den Genozid im Mittleren Osten“ und„Setz‘ dir keine Kappe auf und mach hier kein auf bösen Juden, wenn du angegriffen bist, was ist das für eine ekelige Art.“ Eine Person aus der Versammlung spekulierte über eine Inszenierung.
Versammlungsgeschehen vor dem Bundestag
Auch im Kontext einer Versammlung aus dem Reichsbürger_innen-Spektrum vor dem Bundestag dokumentierte RIAS Berlin antisemitische Äußerungen. Visuell geprägt war diese Versammlung ebenfalls durch eine Vielzahl schwarz-weiß-roter Symboliken. Unter anderem hielt ein bekannter veganer Koch eine Rede, in der er klassische Chiffren und Narrative des modernen Antisemitismus bemühte. Eine der zentralen Aussagen dabei war, dass die deutsche Regierung durch die „Rothschilds“ installiert worden sei. Diese wiederum würden Krieg gegen das deutsche Volk führen und Angela Merkel als Marionette lenken. Daneben imaginierte er: „Die NWO findet heute und hier sein [sic] Ende, in Deutschland.“
Rechtsextremer Videoblogger Nikolai Nerling, der als weiterer Redner auftrat, sprach von sechs Millionen Teilnehmer_innen an den Versammlungen und verband diese Zahl auf verhöhnende Weise mit Schoa bagatellisierenden Assoziationen: „Ich glaube es sind nicht sechs Million, es waren weniger, sechs Million sind eigentlich unmöglich, die hätten gar kein Platz auf der Straße da.“
RIAS Berlin wurden weitere antisemitische Äußerungen im Kontext dieser Versammlung bekannt:
Von diesen Akteur_innen und Teilnehmer_innen dieser Versammlung ging später der „Sturm auf den Bundestag“ aus.
Sonntag
Am 30. August fanden weitere Versammlungen statt, dabei dokumentierte RIAS Berlin antisemitische Inhalte im Kontext der Versammlung am Brandenburger Tor. Eine Rednerin forderte „ein Geld ohne Zinseszins“ und begründete dies mit der Bibel. Einen Raum für Agitation erhielt der Mann, der am Samstag gegenüber einem Presseteam antisemitische Verschwörungsmythen verbreitete (s.o.). Er hielt eine Rede, für die er die Bühne mit einer großen schwarz-weiß-roten und einer preußischen Fahne bestieg.
Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin)
c/o Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK)
Dr. Michael Blume
Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus
Dr. Dietmar Woidke
Ministerpräsident des Landes Brandenburg, SPD
Thomas Rachel
MdB, CDU
Prof. Dr. Natan Sznaider
ELES-Beiratsmitglied
Prof. Dr. Micha Brumlik
ELES-Vereinsmitglied
Düzen Tekkal
Journalistin, Filmproduzentin, Menschenrechtsaktivistin
Kerstin Griese
MdB, Parlamentarische Staatssekretärin für Arbeit und Soziales, SPD
Malu Dreyer
Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz, SPD
Aydan Özoğuz
MdB, Staatsministerin a.D., SPD
Belit Onay
Oberbürgermeister von Hannover, Bündnis 90/Die Grünen
Manuel Herder
Verleger des Herder Verlags und Mehrheitsgesellschafter von Thalia
Michael Kretschmer
Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, CDU
Marina Chernivsky
Leitung Kompetenzzentrum (ZWST) und Geschäftsführung Ofek e.V.
Anetta Kahane
Gründerin & ehem. Vorstandsvorsitzende (1998-2022) der Amadeu Antonio Stiftung
Dr. Christian Staffa
Beauftragter der Ev. Kirche in Deutschland für den Kampf gegen Antisemitismus & Studienleiter an der Evangelischen Akademie zu Berlin
Dr. Felix Klein
Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus
Annalena Baerbock
Bundesministerin des Auswärtigen, MdB, Bündnis90/Die Grünen
Stephan Weil
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, SPD
Volker Beck
Geschäftsführer und Gesellschafter des Tikvah Instituts & seit 2022 Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) e.V.
Dietmar Nietan
MdB, SPD
Dr. Anja Siegemund
Direktorin des Centrum Judaicum, ELES-Beirat
Hakan Tosuner
Geschäftsführer des Avicenna Studienwerks
André Kuper
Landtagspräsident von Nordrhein-Westfalen, CDU
Karin Prien
Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, CDU
Pfarrerin Ilona Klemens
Generalsekretärin der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, FDP
Dr. Reiner Haseloff
Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, CDU
Christian Schmidt
Bundesminister a.D., CSU
Dr. Gesine Lötzsch
MdB, DIE LINKE
Petra Pau
Vizepräsidentin des deutschen Bundestages,
Michael Müller
MdB, Regierender Bürgermeister von Berlin a.D., SPD
Dr. Annette Julius
Generalsekretärin der Studienstiftung des deutschen Volkes
Manuela Schwesig
Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, SPD
Prof. Dr. Georg Braungart
Leiter des Cusanuswerks
Benjamin Strasser
Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, FDP
Dr. jur. Andreas Bovenschulte
Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen, SPD
Michael Roth
MdB, SPD
Anja Karliczek
MdB, Bundesministerin für Bildung und Forschung a.D., CDU
Tobias Hans
Ministerpräsident des Saarlandes a.D., CDU
Armin Laschet
MdB, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, CDU
Volker Bouffier
Ministerpräsident des Landes Hessen a.D., CDU
Dr. Michal Or-Guil
ELES-Geschäftsführerin
Friederike Faß
Leiterin und Vorstand des Evangelischen Studienwerks
Dr. Peter Tschentscher
Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, SPD
Kai Gehring
MdB,
Janika Gelinek und Dr. Sonja Longolius
Leitung Literaturhaus Berlin
Winfried Kretschmann
Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Bündnis 90/Die Grünen
Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Ehem. Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern & ehem. Ratsvorsitzender der EKD (2014-2021)
Frank Müller-Rosentritt
MdB, FDP
Dr. Wiebke Esdar
MdB, SPD
Saba-Nur Cheema
Politologin & Publizistin
Dr. jur. Markus Söder
Ministerpräsident des Freistaates Bayern, CSU
Bodo Ramelow
Ministerpräsident des Freistaats Thüringen und Mitglied im Stiftungsrat der Leo Baeck Foundation
Dr. Klaus Lederer
Bürgermeister und Kultur- und Europasenator von Berlin, DIE LINKE
Daniel Günther
Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, CDU
Prof. Jeanine Meerapfel
Filmregisseurin und ehem. Präsidentin der Akademie der Künste (2015-2024)
Jan Korte
MdB, DIE LINKE
Hermann Gröhe
MdB, CDU
Dr. h. c.
Schirmherrin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks
Dr. Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Schirmherr von
Prof. Dr. Samuel Salzborn
Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus
Prof. Dr. Frederek Musall
Stellv. Rektor der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg & ELES-Beiratsvorsitzender
Ekin Deligöz
MdB & Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bündnis 90/Die Grünen