Befremdet-Sein ist ein alltägliches Phänomen. Es bedeutet, dass uns jemand oder etwas fremd erscheint oder befremdet. Oftmals wird dieses Erleben mit der Fremdheit des Gegenübers, beispielsweise über » seine « Kultur, Religion, Sprache oder Aussehen, erklärt und begründet. Der Rückgriff auf sozial erworbene Fremdheitsmaßstäbe deutet auf einen nationalen, soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Rahmen hin, der die Identitäts- und Zugehörigkeitsordnungen für die Einzelnen wie auch ganze Gruppen dauerhaft bestimmt. Fremdheit wird somit als etwas gesellschaftlich Produziertes beschrieben: Fremde sind demnach nicht objektiv gegeben, sondern sie werden hergestellt. Dieser Herstellungsprozess wird erst dann möglich, wenn die dazu gehörigen expliziten wie auch impliziten Normen und Zugehörigkeitsparameter geteilt und befolgt werden. Die Fremdmachung – die Veranderung – schafft Abgrenzung und reguliert die Zugehörigkeitsordnungen in einer Gesellschaft. Dadurch kann deutlich gemacht werden, wer dazu gehört und wer als Fremde/r außen vor oder am Rande der Gesellschaft platziert wird. Die Gruppenunterscheidungen basieren überwiegend auf historisch vorstrukturierten und gesellschaftlich unberührten Wert- und Identitätsvorstellungen. Das Konstrukt der nationalen Identität ( z. B. Deutsch-Sein ) ist solch eine wirkmächtige Vorstellung, die trotz politischer Entscheidungs- oder gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse über Jahrhunderte stabil bleiben kann. Jens Schneider thematisiert in seiner Studie » Deutsch sein: Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschlands « ( 2001) die historische Dimension der › anderen ‹ Gruppen als Gegenbild des Eigenen, das stets ( neu ) hergestellt werden muss, um Abgrenzungen zwischen den Gruppen zu markieren und festzuhalten. Im national-deutschen Kontext lassen sich solche Abgrenzungen untergliedern in Konstruktionen der › Anderen ‹ außerhalb sowie innerhalb der deutschen Gesellschaft. Während die Definition der › Anderen ‹ außerhalb Deutschlands nach subjektiv empfundener › kultureller ‹ Distanz und historischen Vorlieben verläuft, werden die Vorstellungen der › Anderen ‹ innerhalb der deutschen Gesellschaft um zusätzliche Differenzmaßstäbe der nationalen Herkunft und Religion erweitert und zum allgemeingültigen Zugehörigkeitsparameter gemacht ( Schneider 2001).
Die Methode wurde von Marina Chernivsky, Christiane Friedrich und Jana Scheuring entwickelt und erschien 2014 in “Praxis Welten. Zwischenräume der Veränderung. Neue Wege zur Kompetenzerweiterung.”. Die Methode findet ihr im PDF Format hier, inklusive Vertiefungsangebot: Wer gilt als “fremd”?
Wenn wir in dieser Übung fragen : Wer gilt als fremd ? «, dann fragen wir indirekt : » Wer gehört dazu und wer nicht ? Es stehen dabei ganz unvermittelt die Fragen im Raum : Wer gilt als deutsch und wer gehört zum deutschen Wir dazu ? Die Übung kann auch von dieser Fragerichtung aufgerollt werden. Über das Fragen nach Fremdheit dringen wir jedoch schneller und eindeutiger zur Wir-Konstruktion vor und können ihre Ränder und Nahtstellen im Gruppendiskurs beleuchten. Die vorliegende Übung erfordert einen achtsamen Umgang mit Perspektiven
und Differenzen im Meinungsbild und unterschiedlichen Motivationslagen. Mittels der Leitfragen begeben wir uns gemeinsam mit den Teilnehmenden in moralisch aufgeladene Themengebiete, die Verunsicherung evozieren und eine Gegenwehr hervorrufen können. Die theoretische Einbettung und gruppendynamische Einstimmung auf den Inhalt und Ablauf kann die Motivation der Gruppe fördern, sich des Themas anzunehmen. Die Übung kann zu einer erhellenden Analyse eigener Verortungen, gesellschaftlicher Diskurse und Handlungsmöglichkeiten beitragen. Sie ermöglicht zudem Reflexion über:
• machtwirksame Fremdheitsmaßstäbe, Identität und Zugehörigkeitsordnungen
• wahrgenommene Nähe- und Distanzbeziehungen zu bestimmten Gruppen in der Gesellschaft
• aktuelle und historische Wirkmächtigkeit von gruppenbezogenen Vorstellungen, Zuschreibungen und Gruppenzuordnungen.
Eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung der Übung ist eine offene und vertrauensvolle Seminaratmosphäre auf Seiten der Teilnehmenden wie der Seminarleitung. Auf die unterschiedlichen Perspektiven sowie Erfahrungen der Teilnehmenden sollte besonders geachtet werden, denn es können auch eigene Differenz- und Diskriminierungserfahrungen berührt werden. Die Seminarleitung führt die Übung ein, visualisiert die gesammelten Ergebnisse und moderiert die Übungsauswertung.
Arbeitsform: Stuhlkreis
Gruppengröße: max. 20 Personen
Zeitumfang: 90 – 120 Minuten
Materialien: Moderationskarten und Flipchart für Notizen
Zur Übung Wer gilt als fremd? sind verschiedene Hinführungen denkbar. Die Wahl von leitenden Reflexionsfragen kann dem gesamten Seminarsetting angepasst werden. So kann eine entstehende Diskussion um das Phänomen der Fremdheit oder Fremdmachung aufgegriffen und in dieser Übung kanalisiert werden. Es bietet sich beispielsweise an, die Übung mit einer offenen Sammlung von Identitäts- und Differenzmerkmalen, oder Gruppen – welche die gesellschaftlichen Differenzlinien in der Breite aufzeigt – zu verknüpfen, und anschließend folgende Frage in den Raum zu stellen:
• Wer gilt in unserer Gesellschaft aktuell als fremd, distant oder nicht zugehörig?
Sollte die Übung den Aspekt der Herkunft besonders zentrieren, sollte die Sammlung darauf ausgerichtet sein.
Der Einstieg in die Übung kann durch die Phase › stiller Reflexion ‹ und
entlang folgender Leitfragen gefördert werden:
• Von welchen gesellschaftlich geteilten Bildern über Gruppen gehe ich aus?
• Welche Gruppen sind (aktuell) gesellschaftlich im öffentlichen Diskurs präsent?
• Welche gruppenbezogenen Bilder und Vorannahmen beeinflussen meine Wahrnehmung?
In dieser Phase ist es wichtig, Merkmale, die mit Herkunft verknüpft werden – zum Beispiel der Nationalität, Sprache, Religion, Kultur, Hautfarbe – aus dem Konglomerat an anderen zuvor gesammelten Merkmalen, herauszuheben und zusammenzuführen. Anschließend kann folgende Frage im Plenum andiskutiert werden:
• Welche Gruppen fallen Ihnen dazu ein?
Die Sammlung kann sowohl in Kleingruppen als auch im Plenum erfolgen. Die Entscheidung obliegt dem Seminarteam je nach Zeit und Gruppengröße.
Die neu dazu gesammelten Gruppen können am Flipchart im Kreisschema visualisiert werden. Hierzu eignen sich folgende Diskussionsfragen:
• Wenn wir annehmen, dass dieser Kreis die Mitte unserer Gesellschaft symbolisiert, wo würden Sie die genannten Gruppen verorten?
• Wie nah oder fern sind die Beziehungen dieser Gruppen zur Mitte der Gesellschaft und wie kommen diese Verortungen im öffentlichen Diskurs zum Tragen?
Binäre Unterscheidungen zwischen einem sozial konstruierten, natio-ethno-kulturellen Wir ( Mecheril 2003 ) und einem Nicht-Wir vermengen sich in der Regel mit wenig neutralen, eher herabsetzenden oder herabwürdigenden Zwischentönen und konkreten Benachteiligungspraxen. Die Bedeutung dieser Diskussion besteht hier vornehmlich in der Bewusstwerdung der eigenen Denkfiguren und tradierter Gruppenkonzepte mit ihren Vor- und Nachteilen im gesellschaftlichen Machtgefüge. Die Thematisierung von Gruppen und Gruppenverhältnissen erfordert einen differenzierten und kritischen Blick auf hegemoniale Machtverhältnisse, Zuschreibungs- und Zuordnungsdimensionen. Die Übungsauswertung entlang dieser Überlegungen macht auf kultur-rassistische Dispositionen aufmerksam, lässt Unterschiede nicht als naturgegeben betrachten und regt eine ( neue ) rassismuskritische Perspektive an. Mögliche Auswertungsfragen:
• Was fällt Ihnen an der Sammlung und dem entstandenen Schaubild auf?
• Wie lassen sich die unterschiedlichen Grade an Nähe und Distanz erklären?
• Wodurch werden sie aufrechterhalten ?
• Welche Bilder und Vorstellungen sind mit den genannten » Gruppen « verbunden ?
• Welche Funktionen erfüllen sie ?
Die Auswertung kann erweitert werden durch Ergänzung von hier nicht erwähnten »Gruppen« und das Ausloten der Gründe für ihre Abwesenheit im Diskussionsprozess. Eine Vertiefung in folgende Richtungen ist möglich, allgemein bezogen auf dem Umgang mit wahrgenommener Fremdheit sowie auf die konkrete Form der Herstellung von Fremdheit und Differenz.
• Wie werden diese Gruppen, die als sehr homogen betrachtet werden, behandelt und bewertet?
• Wie wird Differenz und Fremdheit hergestellt und begründet?
Dr. Dietmar Woidke
Ministerpräsident des Landes Brandenburg, SPD
Anetta Kahane
Gründerin & ehem. Vorstandsvorsitzende (1998-2022) der Amadeu Antonio Stiftung
Prof. Jeanine Meerapfel
Filmregisseurin und ehem. Präsidentin der Akademie der Künste (2015-2024)
Düzen Tekkal
Journalistin, Filmproduzentin, Menschenrechtsaktivistin
Christian Schmidt
Bundesminister a.D., CSU
Stephan Weil
Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, SPD
Belit Onay
Oberbürgermeister von Hannover, Bündnis 90/Die Grünen
Friederike Faß
Leiterin und Vorstand des Evangelischen Studienwerks
Pfarrerin Ilona Klemens
Generalsekretärin der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
Armin Laschet
MdB, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, CDU
Ekin Deligöz
MdB & Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bündnis 90/Die Grünen
Tobias Hans
Ministerpräsident des Saarlandes a.D., CDU
Dr. Klaus Lederer
Bürgermeister und Kultur- und Europasenator von Berlin, DIE LINKE
Volker Beck
Geschäftsführer und Gesellschafter des Tikvah Instituts & seit 2022 Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) e.V.
Dr. h. c.
Schirmherrin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks
Winfried Kretschmann
Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Bündnis 90/Die Grünen
Prof. Dr. Natan Sznaider
ELES-Beiratsmitglied
Dr. Michael Blume
Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus
Malu Dreyer
Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz, SPD
Dr. Wiebke Esdar
MdB, SPD
Dr. Annette Julius
Generalsekretärin der Studienstiftung des deutschen Volkes
Dr. Reiner Haseloff
Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt, CDU
Dr. Peter Tschentscher
Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, SPD
Volker Bouffier
Ministerpräsident des Landes Hessen a.D., CDU
Manuela Schwesig
Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, SPD
Hakan Tosuner
Geschäftsführer des Avicenna Studienwerks
Dr. Josef Schuster
Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Schirmherr von
Michael Roth
MdB, SPD
Dr. Gesine Lötzsch
MdB, DIE LINKE
Jan Korte
MdB, DIE LINKE
Dr. jur. Markus Söder
Ministerpräsident des Freistaates Bayern, CSU
Saba-Nur Cheema
Politologin & Publizistin
Dietmar Nietan
MdB, SPD
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, FDP
Karin Prien
Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, CDU
Anja Karliczek
MdB, Bundesministerin für Bildung und Forschung a.D., CDU
Hermann Gröhe
MdB, CDU
Janika Gelinek und Dr. Sonja Longolius
Leitung Literaturhaus Berlin
Prof. Dr. Samuel Salzborn
Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus
Annalena Baerbock
Bundesministerin des Auswärtigen, MdB, Bündnis90/Die Grünen
Manuel Herder
Verleger des Herder Verlags und Mehrheitsgesellschafter von Thalia
Michael Kretschmer
Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, CDU
Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Ehem. Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern & ehem. Ratsvorsitzender der EKD (2014-2021)
Dr. Felix Klein
Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus
Bodo Ramelow
Ministerpräsident des Freistaats Thüringen und Mitglied im Stiftungsrat der Leo Baeck Foundation
Aydan Özoğuz
MdB, Staatsministerin a.D., SPD
Petra Pau
Vizepräsidentin des deutschen Bundestages,
Daniel Günther
Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, CDU
Frank Müller-Rosentritt
MdB, FDP
Marina Chernivsky
Leitung Kompetenzzentrum (ZWST) und Geschäftsführung Ofek e.V.
Benjamin Strasser
Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, FDP
Dr. Anja Siegemund
Direktorin des Centrum Judaicum, ELES-Beirat
Prof. Dr. Micha Brumlik
ELES-Vereinsmitglied
Thomas Rachel
MdB, CDU
Kerstin Griese
MdB, Parlamentarische Staatssekretärin für Arbeit und Soziales, SPD
Kai Gehring
MdB,
Dr. jur. Andreas Bovenschulte
Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen, SPD
Prof. Dr. Frederek Musall
Stellv. Rektor der Hochschule für jüdische Studien Heidelberg & ELES-Beiratsvorsitzender
Prof. Dr. Georg Braungart
Leiter des Cusanuswerks
Dr. Christian Staffa
Beauftragter der Ev. Kirche in Deutschland für den Kampf gegen Antisemitismus & Studienleiter an der Evangelischen Akademie zu Berlin
Michael Müller
MdB, Regierender Bürgermeister von Berlin a.D., SPD
André Kuper
Landtagspräsident von Nordrhein-Westfalen, CDU
Dr. Michal Or-Guil
ELES-Geschäftsführerin