Wir alle haben einen vielstimmigen Chor in uns. Nach welchen Stimmen handeln wir und nach welchen Kriterien wählen wir diese Stimmen aus ? Welche dieser Stimmen nehmen wir bewusst wahr und welche machen uns blind für Perspektiven und Erfahrungen anderer ? Warum kann es hilfreich sein, die inneren Stimmen zu erkennen, zu sortieren und möglicherweise neu zu ordnen? Die Fähigkeit, auch ambivalente und vielgestaltige Perspektiven anzuerkennen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem differenzierten und selbstwirksamen Selbst. Diese Fähigkeit ist Ausdruck einer geschärften Wahrnehmung für die (eigene) innere Pluralität und hilft Brücken nach außen zu bauen, denn viele irrationale Momente der Abwehr und Abwertung sind Ausdruck von verinnerlichten und das Verhalten dominierenden Affekten und Denkfiguren. Wenn wir diese inneren Emotionen, Gedanken und Handlungsimpulse in ihrer Wirkung erkennen, in ihrer Verwobenheit durchschauen und konstruktiv, nicht als scham- und schuldbesetzt, erleben, gewinnen wir neue Perspektiven und Handlungsoptionen. In der Kommunikationspsychologie hat sich das Modell des Inneren Teams von Schulz von Thun als sehr wirksam erwiesen, um Selbst- und Rollenklärungsprozesse in der Innen- und Außenkommunikationen anzuleiten. Bevor die Konflikte sich im Außenfeld ereignen, finden sie im Innenraum statt. Diese Konflikte sind in der Regel von unterschiedlichen Stimmen – Meinungen und Einstellungen – begleitet, die häufig als ambivalent und widersprüchlich erlebt werden. Diese Stimmen, sofern nicht sinnvoll geordnet, können Blockaden auslösen, Emotionen aufrufen und Dissonanzen bilden, die einem selbstbestimmten Handeln im Wege stehen ( Schulz von Thun 2004 ). Im Kontext diversitätsreflexiver und machtkritischer Erwachsenenbildung kann der Ansatz der Stimmenreflexion nicht nur die Kommunikationsstörungen, sondern auch die dazu gehörigen Machtverhältnisse sichtbar machen und ihre Wirkung im eigenen Einflussbereich – zum Beispiel durch Reflexion und Bewusstwerdung – anregen.
Die Methode wurde von Marina Chernivsky, Christiane Friedrich und Jana Scheuring entwickelt und erschien 2014 in “Praxis Welten. Zwischenräume der Veränderung. Neue Wege zur Kompetenzerweiterung.”. Die Methode findet ihr im PDF Format hier, inklusive Vertiefungsangebot: Innere Stimmen im Dialog
Diese Übung zielt auf die Förderung von Selbstreflexion ab – auf die Wahrnehmung sowie Akzeptanz eigener Pluralität, Widersprüchlichkeit und Diversität. Ein weiteres Ziel ist die Stärkung der Selbstkommunikation über die Einübung des inneren Sprechens und der Selbstverbalisation. Die hier vorgeschlagenen Übungsschritte können zudem zur Forcierung von Entscheidungsprozessen beitragen. So können Erlebnisse, die noch diffus scheinen, sprachlich geformt und durch mentale Verbalisierungen oder auch Rollenspiele greifbar gemacht werden.
• Entmystifizierung von inneren Geheimnissen
• Förderung von Selbsterkenntnis und Selbstkommunikation
• Entwicklung neuer Bewältigungs- und Handlungsstrategien
• Generierung von ( neuen ) Ressourcen
Arbeitsform: Stuhlkreis
Gruppengröße: max. 20 Personen
Zeitumfang: 60 – 90 Minuten
Materialien: halbes Flipchart-Papier für jede Person und Stift, Flipchart für gemeinsame Sammlung von Gedanken, Emotionen und Handlungsimpulsen
In der Einzelarbeitsphase versuchen die Seminarteilnehmer*innen, eine Situation zu rekonstruieren und zu vergegenwärtigen. Dabei ist es wichtig, eine Situation zu nutzen, die sie als widersprüchlich oder ambivalent erlebt haben. Die Beteiligten können die dazugehörigen Stimmen und Meinungen notieren und innerlich festhalten. Ein klarer thematischer Bezug, die Einbettung der Übung in das leitende Seminarthema, ist wichtig, um die Situationssuche einzuengen und zu fokussieren.
Leitfrage für die Einzelarbeit mit der eigenen Situation: Denken Sie an eine Situation, die Sie als widersprüchlich oder ambivalent erlebt haben und fertigen Sie eine Übersicht an, welche die dazugehörigen Stimmen bebildert!
Hilfsfragen:
• Welche Stimmen ( Gefühle, Gedanken, Handlungsimpulse ) tauchen dabei auf?
• Wie sind die Stimmen geordnet ? Welche dieser Stimmen stehen möglicherweise in Konflikt oder im Widerspruch zueinander?
• Wie lassen sich diese Stimmen in einem Schema bebildern?
Alle Teilnehmenden bearbeiten nun ihre jeweilige Situation zuerst in stiller Reflexion. Neben der Bebilderung können die Gedanken, Gefühle und Impulse in Sätzen oder Stichpunkten notiert werden. Diese Form der Reflexion begünstigt den inneren Dialog und ist eine gute Grundlage für den Austausch in Kleingruppen. Bei der Einführung in die Einzelarbeit kann alternativ folgendes Frageraster zur Orientierung vorgegeben werden:
• Welche Gefühle löst die Situation in mir aus?
• Welche Gedanken sind damit verbunden?
• Welche Reaktionsmuster nehme ich in mir wahr?
• Habe ich erste spontane Handlungsimpulse?
Achten Sie bitte auf die unterschiedliche Intensität und das Tempo der einzelnen Stimmen. Manche sind leiser und kommen später, haben aber trotzdem Bedeutung!
Die Arbeit in Kleingruppen dient nun der Darstellung der zuvor erstellten Inneren Teams und dem aktiven Austausch mit anderen Teilnehmenden. Ferner bekommen die Gruppen die Aufgabe, ein gruppeneigenes Ergebnis zu entwickeln. Es ist möglich, die Gruppen um ein gemeinsames Bild zu bitten, das die verschiedenen Situationen und Stimmen im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in sich vereint.
Leitfrage für die Kleingruppenarbeit: Stellen Sie sich gegenseitig Ihre Zeichnungen vor und besprechen Sie folgende Fragen:
1. Welche Stimmenkonflikte kommen darin vor?
2. In welcher Beziehung stehen sie zueinander?
3. Welche Wirkungskraft haben diese Stimmen?
Die Gruppen werden gebeten, auf die Aufteilung der Gesprächszeit zu achten, damit alle Gruppenmitglieder zu Wort kommen und gehört werden. Es wird weiterhin darauf geachtet, dass die Vorstellungen anderer weder kommentiert und noch bewertet werden. Möglich ist das Nachfragen oder die Spiegelung der Resonanz in der Ich-Form : Wie meinen Sie das? Habe ich Sie richtig verstanden… ? Bei mir kommt es so an…
In der abschließenden Auswertung wird nun verdichtet und gefiltert, was in den einzelnen Kleingruppen sichtbar geworden ist. Die einzelnen Bebilderungen werden von den Gruppen vorgestellt und kommentiert. Zuerst geht es um die Vielfalt der Wahrnehmung und Wirkungsanalyse in einer dialogischen Plenumsdiskussion. Im zweiten Schritt geht es um die Integration der verschiedenen Stimmen und den Versuch, ihre Diversität in Einklang zu bringen.
Die Leitfragen für das Plenumsgespräch können lauten:
• Wie gehen wir mit der Vielfalt an Inneren Stimmen um?
• Inwieweit ist das Erkunden der Inneren Stimmen hilfreich und wichtig?
• Welche Relevanz hat dieses Erkunden für das Seminarthema, z. B. in der Diskriminierungsprävention?
Die Ergebnisse der Gruppenarbeit können alternativ symbolisiert vorgestellt und mit raumbezogenen Übungen ausprobiert werden. Dabei werden leere Stühle in die Raummitte gestellt und einzeln benannt. Den Stühlen können die jeweiligen Stimmen und Positionen durch die Teilnehmende zugeordnet werden.
Weitere Fragen für Erfahrungsaustausch :
• Wie haben Sie die Übung bisher erlebt?
• War es einfach/schwer für Sie, die Inneren Stimmen zu benennen?
• Haben Sie alle Stimmen erfasst oder ist etwas diffus geblieben?
• War ein überraschender Aspekt dabei?
• Ist Ihnen etwas besonders aufgefallen?
• Haben Sie Widersprüchliches wahrgenommen?
• Gab es stärkere bzw. schwächere Stimmen?
• Womit hängt das zusammen? Wie können Sie sich das erklären?
• Wieso stehen sie nicht immer im Einklang miteinander?
• Warum sind die Stimmen oftmals so diffus/widersprüchlich?
• Wie gehen Sie damit um? Geben Sie etwas von Ihrer Pluralität bzw. Widersprüchlichkeit nach außen preis? Wenn ja, was? Wenn nein, warum nicht?
Die Seminarleitung kündigt das Ende dieser Phase an und leitet die anschließende Integrationsphase ein:
1. Wie kann die Integration der Stimmen aussehen?
2. Welche Lösungsstrategien können hilfreich sein?
3. An welcher Stelle besteht ein Wunsch nach Veränderung?